Windjammer...
Sie gehören mit zum Schönsten, das menschlicher Geist und
menschliche Hand je geschaffen haben, jedem noch so hartgesottenen
Seebären tritt beim Anblick ihrer Anmut verräterischer Schimmer
in die Augen und wer hat in seiner Kindheit nicht schon einmal davon
geträumt, auf einem der ihren auf "große Fahrt" zu gehen.
Nun, Kindheitsträume sollte man nach Möglichkeit in Realität
umsetzen, und die Möglichkeit eröffnete in diesem Fall die
politische Entwicklung der osteuropäischen Staaten und Vereine
wie Perestroika-Sailing oder Tallships-Friends, die es sich zur
Aufgabe gesetzt haben, durch entsprechende Vermarktung die sich im
Besitz Rußlands und der Ukraine befindlichen Windjammer der
ehemaligen SU vor dem Abwracken zu bewahren.
Die notwendigen Informationen für die geplante Reise fand ich
auf der BOOT 97 in
Düsseldorf und die Entscheidung fiel nach eingehendem Studium
der Fahrpläne auf die "Khersones", ein Schulschiff des
Marineinstitutes der Universität Kerch (Krim) und die Strecke
Lissabon - Den Helder (Niederlande) in der Zeit vom
5. bis 17. April.
Natürlich fährt man nicht nach Lissabon, ohne sich auch die Stadt
anzusehen. Doch leider waren auch die vier Tage, die ich dafür
vorgesehen hatte, zu schnell vergangen, sodaß ich es zunächst
etwas bedauerte, am 5. April auf die Khersones gehen zu müssen.
Die blieb dann bis zur Abfahrt am nächsten Morgen am Kai liegen.
Damit blieb, nach Erledigung der Formalitäten, genug Zeit, in
Lissabon die letzten Einkäufe zu absolvieren und die schönsten
Plätzchen nochmals aufzusuchen. An dieser Stelle sei vermerkt:
für
alle "Seefahrer" ist das Marine-Museum (museu del marinha) in
der Nähe
des Monstreiro dos Jeronimos und des Denkmals der Entdecker ein
absolutes "Muß". Im Übrigen verfolgt einen in Portugal das
Bewußtsein einer großen Seefahrer-Nation, die man in
den Geschichtsbüchern unter dem Kapitel "Vergangenes" ablegt,
auf Schritt und Tritt. In Lissabon gibt es fast kein
historisches Ereignis
und keinen Platz ohne Bezug zur Seefahrt und zum portugiesischen
Lebensgefühl ("Saudade") gehört das Meer wie zur Butter das
Brot. Aber zurück zum eigentlichen Anliegen. Am Morgen des
fünften legten wir vom Kai Santa Apolonia ab und liefen auf dem Tejo
fast unter voller Besegelung bei strahlendem Sonnenschein und
leicher Brise an Lissabon vorbei auf das offene Meer hinaus.
Allein dieses großartigen Panoramas wegen, das sich uns darbot, muß
sich die Reise gelohnt haben. Man wußte nicht, von welchen Anblick
man sich mehr verzaubern lassen sollte - von dem Lissabons oder von
dem, der uns die zweieinhalbtausend gesetzten Quadratmeter
Segeltuch über unseren Köpfen bot. Die uns auch die nächsten
Tage begleitenden Delphine müssen der gleichen
Ansicht gewesen sein.
Kaum hatten wir jedoch Kap Raso passiert,
als die ukrainischen Kadetten wieder in den Wanten wieselten und die
Segel bargen. Und ab hier begann der Aspekt der Reise, der bei den
meisten einiges Kopfschütteln hervorrief. Wir legten Kurs Nord
an und durchfuhren - oder besser - durchrasten
den gesamten Golf von Biskaya mit Hilfe von
Herrn Diesel.
Angesichts des anhaltend guten Wetters und einem vierer bis
fünfer Wind blutet einem eingefleischten Segler bei diesem
Rum-motoren natürlich das Herz, zumal wir ja alle
völlig hungrig auf's Segeln waren. Mag Kapitän Sukhina seine
Gründe
gehabt haben (angeblicher Termindruck und die Wetterlaunen im Golf);
man hätte trotzdem wenigstens einen Tag lang gegen den
Nordwest aufkreuzen können.
Am zweiten Tag hieß es für alle Wagemutigen: Klettertraining.
War einem beim Auslaufen das Herz schon ganz tief in die Hose
gerutscht, als die Kadetten in 50 Metern Höhe in den Masten turnten
("Soll ich mir das wirklich antun??"),
so galt es jetzt, seinen Mann bzw. seine Frau zu stehen.
Also: Sicherheitsgeschirr nochmals kontrollieren, auf die
Wantspanner steigen, nach oben schauend tief Luft holen und:
los! Mit wackeligen Knien (die wackeln wirklich) und unsicheren
Steig-Schritten, sich verkrampft festhaltend und beim Übersteigen
in den Mars den Kopf anstoßend: das erste Ziel, die Großmarse.
Nach unten gucken - Gott, ist das hoch! Und das sind erst die
ersten 15 Meter. Langsames Entweichen der Anspannung und im
selben Maße aufkeimendes Hurra-Gefühl. Wer geht raus auf
die Großrah? Also wieder Luftholen... geht schon besser.
Wir hängen irgenwo über Deck, gucken nach unten, nach oben,
in alle
Himmelsrichtungen, die ersten Scherze, das obligatorische
Foto (bloß nicht die Kamera fallen lassen - ist nicht meine eigene)
und Faszination pur.
Am ersten Klettertag ist an der Großmars Schluß.
Am zweiten Tag können wir ohne Aufsicht so hoch klettern wie wir
lustig sind. Je höher wir kommen, desto höher steigt die
Begeisterung
und desto wackeliger werden die Beine durch die
ungewohnte Beanspruchung der Muskulatur. Auf das
letzte Stück bis zum Masttop will keiner mehr mit
und alleine sind mir die beiden dünnen Stahltaue,
die die letzte Want bilden, noch nicht reizvoll genug.
Dann eben morgen. Die unendlich scheinende Fernsicht
und die atemberaubende Schönheit des Blicks in die
Takelage und nach unten kann man auch hier auf
der Brammars auf die Sinne wirken lassen.
Am dritten Tag heist das Ziel Masttop. Wir stehen wieder auf der Bram-Marse, allgemeines Zögern, immer wieder
ehrfurchtsvoll auf die letzten Meter nach oben schauend, nach denen nichts mehr kommt als der Himmel.
Ein Mitsegler und ich fassen uns schliesslich ein Herz.
Das Hochhangeln in schwindelnder Höhe an dieser "Himmelsleiter", die nur noch zwei Fußbreiten
Platz bietet, ist eine Mutprobe. Aber wir schaffen es, schnallen uns, oben angekommen, an, verschnaufen
erst einmal und sind ein wenig stolz, die ersten Trainees zu sein, die es gewagt haben.
Nach und nach löst sich die Spannung, und im gleichen Maße wie die unwohle Unsicherheit
weicht, erhebt sich ein mit Worten kaum fassbares Gefühl reinen Glücks.
Wir stehen und sitzen auf der Royalbramrah,
den Blick immer wieder an einem Punkt am Horizont festsaugend, während die Seeluft um die Nasen streicht.
Unter uns wiegt eine gigantische weiße Fläche
gutmütig über die unendlich blaue See, wir wiegen mit, hoch über den zu Punkten verkleinerten Menschlein
dort unten, auf dem Boden. Ich weiß nicht, wie lange wir dort oben
geblieben sind. Zwei Stunden? Drei Stunden? Erst als die Gliedmaßen einschlafen und die durch die Windstopper
kriechende Kälte unangenehm zu werden beginnt, können wir uns losreißen...
Auf und unter Deck ist bereits Alltag eingekehrt. Viermal am Tag Essen (Frühstück, Mittag, Kaffeepause und Abendessen). Wer Krimsekt und Kaviar erwartet, sitzt hier im wahrsten Sinne des Wortes im falschen Boot (und das nicht nur wegen des Essens). Wir kriegen Manschaftskost, nicht für den Gaumen des Gourmets, aber der Appetit ist da und es schmeckt recht passabel, öfters sogar gut. Lediglich die unvermeidlich tägliche Weißkrautsuppe, der russische Bortsch, und die abwechselnd mal weiß-gelblich, mal rötlich schimmernde Limonade (liebevoll Rot- bzw. Weißwein getauft) gehen mir nach einer Woche an die Nieren (bzw. an den Magen). Andere haben damit keine Probleme. Dazwischen kleinere und größere Arbeiten, Rost abklopfen (einige entwickeln hier erstaunliches Talent und die vielfältigsten Techniken), Mennige oder Farbe aufpinseln, morsche Holzteile ersetzen. Eine besonders engagierte Gruppe um ein paar Rheinländer nimmt mit Säge und Hammer die "Praxis" des Schiffsarztes auseinander und setzt sie formvollendet wieder zusammen. Nachmittags hält Kirstin, die deutsche Verbindungsoffizierin, kleine Kurse ab und erzählt Interessantes übers Schiff und übers Segeln. Selbstverständlich bleibt viel Zeit für Gespräche. Für das Buch, das ich mitgenommen habe, bleibt kaum welche.
Ein Wort zu den Mitseglern: Die Stamm-Manschaft und die Kadetten sind jetzt fast schon sechs Monate auf See. Die Stimmung unter den fünfzehn bis siebzehn jährigen Kadetten trifft allenthalben auf Bewunderung. Wohl geht es nicht ohne Differenzen ab, und die werden schon mal mit der Faust bereinigt, aber sonst ist keine Spur von "sich auf die Nerven fallen" zu spüren und die Herzlichkeit aller steckt an. Die Zahl der Trainees beläuft sich auf ca. 30, die meisten kommen aus der BRD, einige aus der Schweiz und aus Holland. Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Leute sind ausnahmslos in Ordnung, jeder paßt sich dem Leben auf dem Schiff an und keiner fordert Extrawürste (das soll auch schon anders gewesen sein. Als die Khersones um Kap Horn lief, haben sich zwei um die Löcher im Käse gestritten, der eine würde sich beim Abendessen nämlich immer den Käse mit Löchern auf den Teller nehmen und der andere möchte den auch mal haben usw. Die beide Streithähne mußten an verschiedene Tische versetzt werden. Einer anderer soll sich beim Kapitän beschwert haben, daß die Kadetten immer nach dem Mittagessen das Deck schrubben, ausgerechnet dann, wenn er Mittagschlaf halten will. Typen gibt's...)
Überhaupt: das Kap Horn. Die Umrundung der berüchtigsten Landspitze der Welt im Januar 97 ist Thema Nr. 1 an Bord. Bei der Begrüßung durch den Kapitän hängen an alle dessen Lippen und sind leicht enttäuscht, daß das ganze relativ unspektakulär (ohne Orkan und Kentergefahr) über die Bühne gegangen ist. Der Kapitän bietet aber Ersatz in Form des Sturms, der die Khersones bei ihrer Abfahrt zu ihrer großen Transatlantikreise im vorigen November in der Nordsee überraschte (zerfetzte Segel, Krängungsmesser bis zum Anschlag bei 60 Grad). Von den beiden Ereignissen gibt's Videos zu sehen und jeder hofft, daß wir verschohnt bleiben.
Bereits jetzt, nach einigen Tagen an Bord, ist das Zeitgefühl völlig verschwunden. Keiner weiß mehr den Wochentag, die Mahlzeiten werden zu den einzigen Fixpunkten, die Zeit wird nur noch in "vor/nach" dem Mittag-, Abendessen, usw. eingeteilt und entsprechend verfließt sie auch. Mittlerweile habe ich den in meinen Augen schönsten Platz an Bord entdeckt: ganz draußen auf dem mächtigen Bugspriet in der Gräting liegend strahlt das Schiff von vorne mit seinem regelmäßig eintauchenden Bug eine Ästhetik aus, die einem Schauer über den Rücken jagt. Insbesondere seit wir aus der Biskaya raus sind und jetzt zumindest für einige Stunden am Tag unter Segel fahren. Aber nach wie vor scheint der Kapitän irgendein blaues Band einfahren zu wollen, und der Diesel blubbert und blubbert und der Wind flaut immer weiter ab. Und schon sind wir im Kanal und schon sind wir durch und haben noch etliche Tage, die wir nun in der Nordsee hinundher kreuzen werden. Zum Glück frischt der Wind auf, wir quetschen uns zwischen zwei Sturmtiefs durch, bei gut und gerne 6-7 Windstärken laß ich mir die nächtliche Steuerwache nicht entgehen. Es ist ein weiteres Highlight dieser Reise. Wärend weit voraus, ganz weit vorne, die Umrisse des Buges in scheinbar endlos tiefe schwarze Löcher fallen, darin verschlungen zu werden scheinen, hänge ich, zunächst assistiert von einem Offizier, am Steuerrad und versuche, die Reaktionen des Schiffes zu verstehen, das sich unerwartet störrisch durch die schwere See steuern läßt. So einen riesen Pott auf Kurs zu halten ist ungleich schwieriger als bei einem 40-Fußer. Die ersten ernsthaften Fälle unfreiwilligen Fischefütterns treten auf und Kirstins Nachmittagskurs im zum Fahrstuhl verwandelten Seminarraum im Schiffsbug hinterläßt bei den meisten einen hübschen Grünton im Gesicht.
Dann, auf einmal ist er da, der letzte Tag auf See und als
vor Den Helder zum letzten Mal die Segel eingeholt werden,
wird es greifbar: die Fahrt ist zu Ende, der Abschied ist unausweichlich.
Einige sind sichtlich erfreut bei dem Gedanken,
bald wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, aber
es gibt auch die Traurigen, die sich in den zwölf
Tagen mit dem Schiff und seinen Menschen verbunden haben und
ich glaube den ein oder anderen sich verstohlen über die Augen
streichen gesehen zu haben. Ein verrückter Gedanke: zu Hause
anrufen und um eine Woche bis nach Rostock verlängern?
Als wir uns am nächsten Tag in Den Helder auf den Weg zum Bahnhof machen, werfe ich mit
einem Klos im Hals einen letzten Blick zurück auf das Schiff und drehe mich danach nicht
mehr um.